Chronische Erkrankungen wie Asthma oder Migräne sind konventionell medizinisch nur schwer zu behandeln. Medikamenten können die Symptome bestenfalls unterdrücken, jedoch nicht heilen. Eine gute Ergänzung stellt in vielen Fällen die Ohrakupunktur dar, die als eine wirkungsvolle Methode, akute und chronische Erkrankungen ohne Nebenwirkungen darstellt. Die Wirkung der Ohrakupunktur erfolgt in der Regel schneller als bei der Körperakupunktur.
Die Ohroberfläche bildet eine Reflexzone, auf der alle Organe des Körpers abgebildet sind. Über Akupunkturpunkte auf dem Ohr können deshalb einzelne Organe oder Körperregionen angesprochen werden. Auch für die Diagnose sind diese Punkte hilfreich: Die Untersuchung der Ohrreflexzonen erlaubt eine genaue Aussage darüber, wo Schmerzen bestehen oder welche Organe des Körpers bei unklaren Beschwerden betroffen sind. Die Untersuchung erfolgt durch Messung von Spannungsdifferenzen an der Ohroberfläche.
Schon der Hippokrates versuchte im 4. Jahrhundert v. Chr. durch Aderlaß am Ohr die Impotenz zu heilen. Bekannt ist auch, dass im alten Ägypten mit Hilfe von Ohrpunkten Schmerzen gelindert wurden. In China waren zur Zeit der Tang-Dynastie (618 bis 907 n. Chr.) etwa 20 vordere und hintere Ohrpunkte bekannt. Über die Handelsstraßen wurde die Methode vermutlich nach Persien, Afrika, Indien und im Mittelmeerraum verbreitet, bevor sie für lange Zeit in Vergessenheit geriet.Dem französischen Chirurgen Dr. Paul Nogier ist es zu verdanken, dass die Ohrakupunktur vor 50 Jahren wiederentdeckt wurde – und damit verbunden ihre vielfältigen Möglichkeiten für Diagnostik und Therapie. Er hatte bei einigen seiner Patienten festgestellt, dass sie Narben am Ohr trugen, weil sie wegen Ischiasschmerzen an dieser Stelle des Ohres mit einer glühenden Nadel „behandelt“ worden waren – und daraufhin keine Schmerzen mehr verspürt hatten.Die betreffende Stelle am Ohr eine Reflexzone des Übergangs der Lendenwirbelsäule zum Kreuzbein sein musste – und außer diesem Teil des Körpers auch alle anderen Stellen und Organe am Ohr „abgebildet“ sind. Seither dient die von dem französischen Arzt vorgestellte Abbildung des Embryos auf dem Ohr als einfaches Schema zur ersten Orientierung.Die Punkte sind nur dann druckempfindlich, wo einem krankhaft veränderten Teil des Körpers vorhanden ist. Diese Punkte wiesen eine andere Temperatur und einen anderen elektrischen Hautwiderstand auf. Das ist heute noch die Grundlage, um aktive und damit zu behandelnde Punkte aufzufinden: Mit Hilfe eines sogenannten Punktsuchgerätes können diese genauestens geortet werden, um sie anschließend mit Nadeln zu behandeln.
Eine Nadel zum Beispiel im Punkt des Kniegelenks fördert den lokalen Stoffwechsel in diesem Gelenk und vermindert oder beseitigt Schmerzen. Auch entzündliche Veränderungen werden beeinflusst. Neben diesen „lokalen“ Punkten gibt es solche, die ausgleichend auf die Psyche wirken, und welche, die eine ähnliche Wirkung wie Medikamente haben – zum Beispiel hormonähnlich, entzündungshemmend und beruhigend.
Weil Störherde den Erfolg jeder noch so guten Akupunktur verhindern können, sollte vor der Behandlung eine Störherddiagnose erstellt werden. Störherde sind Störungen im Körper, die auf den ersten Blick mit dem eigentlichen Krankheitsgeschehen nichts zu tun haben und von denen der Patient oft nicht mal etwas merkt. Das können Narben sein, welche die auf der Körperoberfläche verlaufenden Meridiane durchkreuzen. Auch chronische Entzündungen durch eitrige Zähne, Mandeln oder Kieferhöhlen sowie Belastungen durch Schadstoffe wirken sich negativ aus.
Mit Hilfe der Ohrakupunktur lassen sich solche Störherde als aktive Punkte über die Ohrreflexzonen aufdecken. Viele dieser Herde können auch über Nadeln am Ohr therapiert werden. Die Therapie der individuellen Störherde ist bei chronischen, bisher therapieresistenten Patienten häufig der Schlüssel zum langfristigen Therapieerfolg.
Solche Herde können zum Beispiel sein: tote oder eitrige Zähne, chronisch entzündete Kieferhöhlen, entzündete Mandeln und alle sonstigen Entzündungen. Ausserdem kann jede Narbe zum Störherd werden. Jede Narbe kann stören. Durch die Untersuchung der Ohrreflexzonen ist es dem Therapeuten möglich, genau festzustellen, ob und welche Narbe zum Störherd geworden ist. Er kann auch erkennen, ob vielleicht irgendwo im Körper eine Entzündung oder eine Giftbelastung vorliegt.
Ohrakupunktur erreicht direkt die Gehirnstrukturen
Die Signale der Ohrakupunktur erreichen, im Gegensatz zur Stimulation der auf dem übrigen Körper befindlichen Akupunkturpunkte, direkt über eine kleinere Anzahl von Nervenschaltungen die zentralen Gehirnstrukturen. Damit erzielt die Ohrakupunktur sehr schnell eine Wirkung. Die Stichtiefe beträgt einen bis zwei Millimeter.
Der Einsatzbereich der Ohrakupunktur deckt ein weites Spektrum ab. So werden mit ihr vorwiegend Schmerzzustände aller Art, insbesondere funktionelle Schmerzen, behandelt, ferner Kopfschmerzen und Migräne, Bronchitis, Asthma, Heuschnupfen, Allergien, Hauterkrankungen, Störungen von Magen und Darm, Stoffwechselerkrankungen, Augenerkrankungen, Infektanfälligkeit, Reizblase, Entzündungen der Prostata, unerfüllter Kinderwunsch, männliche und weibliche Fruchtbarkeits- und Hormonstörungen, Suchterkrankungen, Schluckauf oder Schlafstörungen.
Es gibt nur wenige Situationen, in denen die Ohrakupunktur nicht angewandt werden darf. Die ist vor allem der Fall, wenn lokale Entzündungen am Ohr vorliegen oder die zu behandelnde Krankheit dringend eine Operation erfordert. Es können allerdings nach der Operation Nadeln gesetzt werden, um die Schmerzen zu lindern.
Sucht und Akupunktur
Integrative Therapie ausgewählter Suchterkrankungen
Seit mehr als 2000 Jahren sind Alkohol, Nikotin und Opium als Suchtmittel bekannt. Aber auch Akupunktur wird seit mehr als 2000 Jahren praktiziert. Trotzdem sind keine Aufzeichnungen über Suchtbehandlungen mittels Akupunktur bekannt. Auch erfolgte keine Lehre über die Suchtbehandlungen in den TCM-Kliniken der 70er Jahre. Man kann wohl daraus mit Recht schlussfolgern, dass in der Traditionellen Chinesischen Medizin, zumindest aber im Altertum, keine Suchttherapie etabliert war.
Hinterfragt man dagegen die Disharmoniemuster in der TCM, dann zeigt sich, dass Suchtsymptome wohl sehr genau beschrieben wurden und entsprechend auch behandelt werden konnten. Die meisten Suchtkranken zeigen die Symptomatik eines überschießenden Yang. Vornehmlich finden sich vegetative Störungen wie Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen, diffuse Schmerzen, Muskelzittern, extreme innere Unruhe, Schlafstörungen, aber auch psychische Zeichen wie übermäßige Aggressivität, Ängstlichkeit, nicht selten sehr viele Worte bis zur wirre Sprache.
Der Grund für diese überschießende Symptomatik liegt in einer grundlegenden Schwäche des Patienten, in einer YIN-Leere und nicht in einer YANG-Fülle. Die Traditionelle Chinesischen Medizin beschreibt diese Konstellation als Leere-Feuer, als ein Feuer ohne materiellen Aspekt, ohne den YIN-Aspekt, ein Feuer, das nicht wärmt. Der YIN-Aspekt und damit die YIN-Funktionen der verschiedensten Funktionskreise werden durch den chronisch destruktiven Lebensstil, den chronischen Konsum schädigender Stoffe, aber auch durch den Verlust sozial sichernder Strukturen, wie Familie, Arbeit, Wohnung, schließlich auch den Ernährungsmangel zunehmend geschwächt.
Vor allem der ruhige, innere Tonus geht den Menschen verloren, der Betroffene ruht nicht mehr in seiner Mitte, der Funktionskreis „Milz“ ist aus dem Gleichgewicht geraten. Oft beginnt der Prozess schon in Kindheit und Jugend. Fast alle Alkohol- und Drogenpatienten haben Erfahrungen massiver seelischer oder körperlicher, oft auch sexueller Gewalt in ihrer Anamnese. Die traumatische Erfahrung von Gewalt löst Angst aus und greift massiv den Funktionskreis „Niere“ an, aber auch den Funktionskreis „Herz“, schwächt damit das Shen, den Geist, die Seele. Angst und Hilflosigkeit durch Bedrohungen rufen Aggressionen hervor und erzeugen Wut und Zorn, belasten den Funktionskreis „Leber“, wenn sich der Mensch nicht wehren kann oder darf, weil sich beispielsweise das ganze innerhalb der Familie abspielt.
Das führt auf Dauer zu Selbstwertstörungen bis zur Selbstverachtung und Selbstentwertung. Die notwendige Trauer über diese Erlebnisse wird in Gewaltfamilien, aber auch bei posttraumatischer Belastungsstörung regelmäßig verdrängt und unterdrückt, kann nicht verarbeitet werden und wird dadurch nicht abgeschlossen, der Funktionskreis „Lunge“ wird nachhaltig gestört, die Persönlichkeitsentwicklung stagniert.
Das gesamte Pentagramm mit allen seinen Funktionskreisen ist an der Ausbildung der Disharmoniemuster bei Suchterkrankungen beteiligt, aber nicht nur bei diesen, sondern auch bei allen psychischen Erkrankungen, die wir zunehmend in unserem Patientengut finden. Nach Goldstein bezeichnet man als Suchtdisposition eine Dysfunktion des „Belohnungssystems“. Sucht ist demnach der Versuch, den durch Stressbelastung und Missstimmung entstehenden Mangel an körpereigenen lustauslösenden Botenstoffen, wie z. B. ß-Endorphin, und erhöhtem ACTH auszugleichen.
Leichte Formen der Sucht sind Nikotinsucht und Esssucht mit nachfolgender Adipositas, schwere Formen dagegen sind Alkoholsucht, Alkoholkrankheit, Drogensucht bis hin zur Drogensuchtkrankheit. Nach den vorab besprochenen TCM-Disharmoniemustern liegt es nahe, auch hier die Akupunktur wie bei psychosomatischen Störungen einzusetzen (s. a. Die Naturheilkunde 1/2012, S.46-47). Leider hat sich in der Praxis ein bedeutender Unterschied an den Betroffenen gezeigt: Der Suchtkranke kann und will sich nicht noch weiteren Übergriffen und Verletzungen aussetzen. Damit tritt die Körperakupunktur vorerst als inakzeptabel in den Hintergrund. Eine aus Sicherheitsgründende immer liegende Behandlungsposition wird nicht akzeptiert. Im Sitzen wird eine jegliche Behandlung als nicht so hilflos ausgeliefert empfunden. So liegt es nahe, die Ohrakupunktur in Erwägung zu ziehen.
Und tatsächlich hatten schon 1973 die Hongkonger Ärzte Wen H. und Cheung S. im Asian Journal of Medicine beschrieben, dass Elektro-Ohr-Akupunktur am Ohr-Punkt „Lunge“ die Entzugssymptomatik und die Entgiftung Opiumabhängiger erheblich erleichtert. Daraufhin behandelte man in der Drogenambulanz des staatlichen Lincoln Hospitals in Bronx/New York drogenabhängige und psychiatrisch auffälligen Patienten mit dieser Methode und probierte weitere Ohr-Punkte aus. So entwickelte man eine einfache und effektive Kombination von fünf Ohr-Akupunktur-Punkten und einen geeignetes Rahmen für eine wirkungsvolle ambulante und stationäre Entzugsbehandlung Suchtkranker.
Die Wirksamkeit der Ohrakupunktur mit Elektrostimulation war unbestritten. Aber Ohrakupunktur ohne Elektrostimulation wirkte besser. Es war sogar eine Entgiftung mittels der Nadeln möglich. Selbst bei reinem Heroin wirkte das Verfahren sehr gut. Nur bei Polytoxikomanen zeigte sich die Wirkung erst in Kombination mit der traditionellen Körperakupunktur. Die Ohrakupunktur war unabhängig von der Droge und wirkte selbst bei schwierigsten psychiatrisch gestörten Patienten generell unspezifisch sedierend.
Ergänzen kann man die Ohrakupunktur mit den klassischen Körper-Akupunktur-Punkten Körperakupunktur LG 20, PaM 1, Di 4, Ma 36 und Le 3 als Basisvariante, zusätzlich haben sich bewährt: KG 15, Bl 10, Bl 62, Gb 20, Ni 6 und NeuP 28.
Kommentar von Olga Beckmann
Bei der komplementärmedizinischen Anwendung der Ohrakupunktur ist die Wirksamkeit und Sicherheit nach wissenschaftlichen evidenzbasierten Kriterien erwiesen.Die Ohrakupunktur als eingenständiges Mikrosystem unterscheidet sich von der Körperakupunktur im wesentlichen dadurch, daß die Reflexpunkte und Areale nur in irritierten Zustand nachweisbar sind.
Hinsichtlich der neurophysiologischen Ebenen weisen die Punkte des Ohrmuschel auch andere Wechselbeziehungen auf.
Durch die örtlich nahe embryologische Entwicklung und die damit zusammenhängende ungewöhnliche Dichte sowie differenzierte Innervation haben die Reflexbögen der Ohrmuscheln Verbindung zu den höheren Abschnitten des Zentralen Nervensystems wie Thalamus und Hirnstamm. Auf diese relativ kurzen Reflexwege läßt sich der rasche Wirkungseintritt bei akuten Beschwerden zurückführen.